FR-BIO-10
Vermögen? Nein: Natur- und Kulturerbe!
Es ist doch wie immer: die bloße, trockene Übersetzung eines Begriffes, hier „Patrimoine“ gewährt uns schlicht keine Erkenntnis (spröde wird das Wort Vermögen an erster Stelle in vielen Wörterbüchern aufgeführt). Erst in der erstaunlich hochfrequenten Verwendung dieses Wortes im Zusammenhang mit Kultur zeigt sich, was Franzosen wirklich damit meinen wollen: Erbe! Etwas Bewahrenswertes, ein Wert, der in die Zukunft sein Licht werfen soll und nachfolgende Generationen leitet. Wenn Winzer ihre Weine mit diesem Wort benennen, heißt es für uns Genießer, genau hinzuschmecken; da können wir etwas dazulernen. Die Familie Boudau, die seit vier Generationen um Rivesaltes nördlich von Perpignan, nahe der spanischen Grenze ihre Weine anbaut; diese Familie hat uns hier ihr höchsteigenes Verständnis dieses Begriffes aus Flaschen gezogen. Neben dem, was so kulturelles Erbe ausmacht – auch das spielt eine Rolle –, neben den Wortfeldern von Tradition wächst auch etwas anderes. Gemeint scheint eine reiche Natur, deren diverses Leben eben auch in gleichem Maße zu schützen ist. Wenn sich Begriffe so ineinanderfügen, wird das Fundament für einen Wein, der diese Verpflichtungen allesamt einhält, ungemein stark. Die bis zu 60 Jahre alten Reben dieses roten Côtes du Roussillon Villages 2021 wachsen auf den nährstoffarmen Böden des Clos del Pila. Dort brauchen sie alle Hilfe ihrer Nachbarn, seien es Pflanzen oder Tiere, um zu überleben – es mögen die magisch genannten 13 Winde (je nach Jahres- und Tageszeit in verschiedener Stärke auf- oder ablandig) für ein auch noch so erträgliches Klima sorgen. Wenn Familie Boudau im Herbst ihre Trauben (80 % Grenache und 20 % Syrah) von Hand liest und im Weinberg selektioniert, hat wieder eine Vegetationsperiode lang dieses Gefüge funktioniert. Damit die reichen Informationen, sprich die Aromen davon zeugen können, wird nur entrappt, 21 Tage auf der Maische vergoren (nur einmal am Tag wird der Tresterhut schonend umgewendet), und dann für acht Monate im Edelstahl ausgebaut. Mehr nicht! Mehr ist nicht nötig, um zu bewahren.
Das Bild eines aus tiefem Schlaf erwachenden Riesen entsteht vor unserem geistigen Auge. Aus dem luziden kaum pigmentierten Granatrot dieses Riesen steigen die Düfte nur langsam auf. Während wir noch den ersten Eindruck von zurückhaltender Frucht (Pflaume, schwarze Kirsche, Erdbeere, rote Kirsche, Heidelbeere) aufnehmen, kommt es zum Knall. Zack ist der Wein voll da! Selten konnten wir so eine Entwicklung ausmachen. Die Frucht steht über unten gut verteilten Gewürzen (Gehölz, Laub, Rosmarin, Pfeffer, Salbei, Teer, Steinpilz, Leder, Kakao, Erde, Lakritze), während um das Geschehen die Garrigue erblüht. Sehr hintergründige Tannine lassen alle Helligkeit der Säure voll zur Geltung kommen. Die praktisch völlige Abwesenheit von Süße hat keinen Einfluss auf den Gesamteindruck von Fülle. Der Riese ist aufgestanden und verdeckt nun einen beträchtlichen Teil des Horizontes – was heißen soll: Der „Patrimoine“ erteilt uns eben diese Lektion über das Bewahrenswerte mit riesigen Gesten. Wir verneigen uns.
Ab sofort bis mindestens 2032.
Kalkige Böden mit Eisenoxid-Gehalt sorgen für Kraft und Spannung bei Boudaus betörend saftiger Cuvée „Patrimoine“ aus viel Grenache und etwas Syrah.