Einen toskanischeren Merlot wird man nicht finden! 95 Punkte – JAMES SUCKLING
Einzig die zarte Pigmentierung verrät, was hier nicht ganz so toskanisch im Glas ruht. Der magisch-düstere Granat, bei Schwenken des Glases ein strahlender Rubin: All’ das gibt uns den Eindruck, es handle sich um einen typischen Chianti, um eine Cuvée aus tüchtig viel Sangiovese und einem kleinen Anteil französischer Rebsorten, die beisteuern und nicht mitbestimmen. Weit gefehlt! Francesco Ricasoli hatte noch Mitte der 90er Jahre seinen „Casalferro“ eben genauso gemacht. Mittlerweile – nach Jahrzehnten der Forschung – ist es ihm allerdings gelungen, Cabernet Sauvignon und Merlot aus seinem Chianti Classico weitestgehend herauszuhalten. Besonders der Merlot, der seit den 70ern überall im Chianti angepflanzt wurde, hatte für ihn aber einen ganz anderen Reiz parat: Der Ehrgeiz, aus diesem Franzosen einen echten Toskaner zu machen, war geweckt. Er muss sich frech einfach gesagt haben, dass Merlot nun auch zu diesem Chianti gehört, selbst einen Teil der Tradition bildet, untrennbar verwachsen ist mit allem, was seit der Antike in dieser Region Weinbau ausmacht. Wie macht man das? Die Antwort: am besten genauso, wie er auch seine Sangiovese-Weine vinifiziert (denn die Lagen Casalferro, Vigna Pecchierino und Vigna Sodacci werden dem Merlot schon ihren Stempel aufdrücken). Nach Handlese und Selektion wird kontrolliert bei 24 bis 27 °C im Edelstahl auf der Maische vergoren. Nach 14 bis 18 Tagen beginnt die Reifung (hier kommen nur zu 30 % neue 500-Liter-tonneaux zum Einsatz – ein Teil des Weines kommt sogar in Fässer, die bereits zweimal genutzt wurden). Nach 21 Monaten wird abgefüllt und der Wein darf sich noch ein paar Monate in seiner Flasche ausruhen.
Das anfangs erwähnte Pigment und ein winziger Hauch von Cassis sind dann auch die einzigen Verweise darauf, dass es sich bei Ricasolis „Casalferro“ von 2020 um einen reinen Merlot handelt. Der Rest unserer Wahrnehmungen ist Toskana pur. Unter Nüssen und Blüten zieht breite Waldwürze (Waldboden, Leder, Holzkohlenrauch, Graphit, Macchie, Pfeffer, Lakritze, Salbei, Anis, Paprika, Heu) auf. Frucht (Kirsche in Rot und Schwarz, Pflaume, Erdbeere, reife Olive) erstrahlt in vollkommener Typizität des Chianti. Ein frisch gerösteter Kaffee wird nach diesem Dessert gereicht und alles, was vom Holz in den Merlot übergegangen ist (Karamell, braune Butter, Zeder, Kakao), erscheint vor unserer Nase nur in prächtig-mächtigem Kontext. Auf der Zunge hat die eher sanfte Merlot-Säure etwas Mühe, in die Gänge zu kommen – wenn unser Glas aber sein erforderliches Quantum an Luft abbekommen hat, ist auch das kein Hindernis für großen Genuss mehr. Die Tannine schleichen sich zu Beginn noch an uns heran, werden dann aber Musterbeispiele edelster Seide. Kühl und glatt bleibt es am Gaumen, und selbst, wenn wir den Rosso im Mund kräftig in Bewegung versetzen, begeben sich milde Schärfe und gleißende Säure schnell wieder in das vorgesehene Equilibrium. Die Lagen in 400 bis 500 Metern Höhe, ihre Böden aus Sand, Schlick, Kalk und Fels haben den Merlot zu einem echten Toskaner der Spitzenklasse gemacht. Ricasoli musste nur konsequente Kellerarbeit betreiben. Und wir müssen nur konsequent weitergenießen.
Ab sofort bis mindestens 2040+.
Ricasolis „Casalferro“ von 2020 lässt keine Zweifel an seiner toskanischen Herkunft aufkommen – nur Lust auf den nächsten Schluck Merlot!?