„Der Cider wird hier in einer Brennsäule destilliert und dann in großen, alten Fässern für einen komplexen, traditionellen Calvados gereift.“ – Jason Wilson (Vinous)
Die Normandie – Rückzugsort und Ruhepol aller Franzosen
Im 19. Jahrhundert und besonders nach der Reblauskatastrophe, welche den Weinbau für mehr als eine Generation dezimierte, konnte man kein Pariser Caféhaus betreten ohne einen eierbechergroßen Schluck Calvados serviert zu bekommen. Ob der Kaffee oder der Apfelbrand derartig ungenießbar waren, dass viele Gäste beide Getränke miteinander vermischten, darüber lässt sich streiten. Sicher ist: Der Brand hatte hier in erster Linie einen Zweck zu erfüllen anstatt Genuss zu liefern. Er sollt wärmen. Seinen Ursprung hat der Calvados in der von Apfelwiesen übersäten Normandie, im Norden Frankreichs. Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Eisenbahnstrecke von Paris größere Städte der Normandie wie Cabourg und Deauville verband, begann die große Erfolgsgeschichte der wohl beliebtesten Rückzugsstätte der vornehmen Pariser Gesellschaft. Genau aus diesem Grund weckt jener Wallfahrtsort heute selige Emotionen jeder Künstlerseele. Über die Normandie berichteten die größten Künstler Frankreichs, verewigten sie in Gemälden oder ließen sich hier zu bedeutenden Werken inspirieren. Alexandre Dumas, Oscar Wilde, William Turner, Jules Verne oder Maurice Leblanc besuchten die Region, die auch bei „einmischen“ Größen wie Gustave Flaubert oder Guy de Maupassant immer wieder Gegenstand ihrer Kunst war. Auch Marcel Proust, der im noch heute existierenden Grand Hôtel Cabourg viele Sommer verbrachte – er liebte die Schönheit der wilden Küste und des lieblichen Hinterlandes – und dort an seinem Opus magnum, der „Recherche“ schrieb, widmete der Normandie viele Kapitel. „Sein“ Zimmer existiert dort noch heute, der Aufpreis, den Proust-Fans zu zahlen geneigt sind, lohnt sich vermutlich nicht, denn der Direktor des Hauses wird bestätigen, dass der Schriftsteller ein äußerst anspruchsvoller Kunde war und seine Zimmer oftmals des Lärms wegen wechselte.
Die Komponist Erik Satie und Arthur Honegger wurde in Honfleur bzw. Le Havre geboren, Camille Pissarro hatte ein Faible für die Häfen der Normandie und Claude Monet verewigte die Klippen Étretats in zahlreichen Gemälden. Natürlich existiert auch die andere Seite; Schützengräben und zahlreiche Denkmäler erinnern an menschliche Tragödien und die Schrecken des Kriegs, der D-Day ist auch fast 80 Jahre später noch heute omnipräsent. Doch wenn heute Kinder unbeschwert Drachen steigen lassen, wo einst die Alliierten das Land über Landungsklappen stürmten, wird uns auch bewusst, dass nichts ewig währt und – ganz gleich ob positiv oder negativ – irgendwann einmal Gras über die Dinge wächst.
Calvados – höchstes Kulturgut und wichtige Einnahmequelle
Kulinarisch hat die Normandie viel zu bieten. Überwiegend am Meer gelegen, prägt ein maritimes Klima die Landschaft, das – durch den Ärmelkanal von warmen Winden gesegnet – mit regelmäßigen Regen für Wachstum sorgt. Eine klassische Region, die alle vier Jahreszeiten durchlebt ohne von Extremen geprägt zu sein. Dementsprechend grün zeigt sich die Landschaft. Apfelwiesen und Birnenbäume prägen das Bild, Kühe grasen für die Milchproduktion – die Crème d’Isigny gilt als AOC-geschütztes Kulturgut, ebenso wie der berühmte in Holzkistchen verpackte Camembert, der aufgrund seiner traditionellen Herstellung mit unpasteurisierter Milch den USA weiterhin verwehrt bleibt. Großer Stolz der Franzosen sind auch die „Pays d’Auge“-Hühner, die neben dem berühmten Bresse-Geflügel höchste Anerkennung genießen. Aus diesen vorzüglichen Grundprodukten werden allerlei Spezialitäten produziert, wie etwa Apfelgelee, die „Caramels d’Isigny“, der berühmte Cidre oder eben Calvados, die allesamt aufgrund des hohen Tourismusaufkommens meist vor Ort abgesetzt werden.
Unter den zahlreichen Kulturgütern genießt der Calvados wohl höchstes Ansehen, ist er doch seit fast 500 Jahren eine wichtige Einnahmequelle und Versicherung für viele normannische Bauern der Normandie. Kaum einer, der nicht ein wenig Calvados brennt, entweder, um ihn an die Genossenschaft zu liefern oder aber, wie seit Jahr und Tag üblich, für den Eigenbedarf. Obwohl Hunderte von Bauern als Calvados-Produzent registriert sind, widmen sich nur die wenigsten hauptberuflich der Brennerei. Denn das Ausgangsprodukt Cidre ist eine weniger zeitintensive Einnahmequelle, die Produktion deutlich simpler. Zumal auch nur eine geringe Zahl der Apfelbauern eine eigene Brennanlage besitzt. Für die wenigen Produktionstage leihen sie sich noch heute nahezu alle eine Kupferdestille aus. Ähnlich wie beim Armagnac handelt es sich beim Calvados um eines der traditionellsten Produkte Frankreichs. Die Technologisierung scheint hier weitgehend vorübergezogen zu sein. Die größten Unterschiede verzeichnet man in der Aufteilung der Wuchsform des Baumbestands der Betriebe. Man spricht hier von sogenannten „hautes tiges“ bzw. „basses tiges“. Bei erstgenannten handelt es sich um traditionelle hochgewachsene Bäume, die – ganz idyllisch – wild auf den Wiesen wachsen. Dabei stehen die Apfelbaum etwa 10 Meter voneinander, was eine Pflanzdichte von 100 Bäumen pro Hektar ergibt. Die für Gerätschaften und schnelles Wachstum angelegten „basses tiges“ sind dabei oft stromlinienförmig angelegt, bis zu 800 Bäume pro Hektar. Das Ergebnis: schnelleres Wachstum, maschinelle Lese sowie mehr Äpfel pro Hektar, dafür aber auch ein höheres Krankheitsrisiko – und ein deutlich erhöhter Spritzmitteleinsatz.
Wie der Apfel zum Calvados wird
Für die Produktion des Calvados werden die Äpfel (und im Domfrontais auch Birnen) im Herbst und teilweise bis in den Winter vom Boden gelesen, gehäckselt und anschließend gepresst. Der pure Apfelsaft aus einer Mischung von eher bitteren und säuerlichen sowie einer geringen Anzahl süßlicheren Äpfeln (es existieren dort – je nach Quelle – 500 bis 1.000 verschiedene Apfelsorten) wird zu Cidre vergoren. Dieser wird – analog zum Armagnac – einfach über Kupfer gebrannt um dann anschließend für mindestens drei Jahre in gebrauchten Holzfässern ausgebaut. Der Stolz vieler Betriebe sind die ältesten Calvados, die oft als Jahrgangsfüllung oder Cuvée aus unterschiedlich alten Calvados vermarktet werden und die Aromenwelt der Äpfel in allen Facetten wiederspiegeln.
Die Domaine Michel Huard
Auf der Suche nach einem traditionellen Calvados-Produzenten führen viele Wege zur Domaine Michel Huard aus Le Pertyer (Caligny). Nicht nur, dass diese Calvados in Frankreich auf den Karten fast aller dreifach Michelin-besternten Restaurants zum festen Kanon gehören, sondern auch die Tatsache, dass die Huards sich ausschließlich dem Calvados und nicht auch dem Cidre verschrieben haben, überzeugt uns sehr. Denn viele Cidre-Bauern destillieren einerseits Ausgangsprodukte eher minderer Qualität (alles was nicht zum Cidre „reicht“ wird gebrannt …), andererseits verfügen sie schlicht nicht über die Sortenvielfalt, die authentischen Calvados so unglaublich komplex werden lässt. Bei den Huards handelt es sich um einen unabhängigen Familienbetrieb, der mittlerweile in siebter Generation produziert. Die in der AOC Calvados, genauer gesagt in der Normannischen Schweiz gelegene domaine, wird seit 2005 von Jean-François Guillouet-Huard geleitet, der sie 2012, als sein Großvater starb, übernahm. Obwohl in Caligny, in unmittelbarer Nachbarschaft der Anbauregion Domfrontais (auch Passais genannt) beheimatet, wo man Calvados aus Äpfeln und Birnen destilliert, beschränkt sich Jean-François – wie seine Vorväter – gänzlich auf den Apfel.
Auf 18 Hektar wachsen die rund 2.100 Bäume, ausschließlich als hautes tiges. Die alten, hohen Bäume, zwischen denen drei Dutzend Kühe grasen, liefern deutlich niedrigere Erträge, dafür umso bessere Qualitäten, die licht- und luftdurchflutet und dank des großen Abstands ohne Einsatz von aggressiven Spritzmitteln gedeihen. Charakteristisch für die Region sind hier die Böden: Tuffstein, Granit und Sand prägen den Unterbau der über 30 verschiedenen Apfelsorten (darunter Doux Lozon, Rouge Duret, Fréquin, Clos Renaud, Argile Grise, Douce Moen, Bisquet, Binet Rouge, Marin Onfroy, Doux Normandie, Kermerrien, Rambault).
Eine Besonderheit der Domaine sind die jahrgangsspezifischen Calvados, die bis zu ihrer Abfüllung separat reifen. Darum gilt Michel Huard von jeher als legendärer Produzent für Vintage-Calvados, obschon der „Hors d’Age“, eine Cuvée verschiedener jüngerer Calvados Kultstatus besitzt. Um die gelebte Tradition des Betriebs zu verdeutlichen, muss man sich nur vergegenwärtigen, wie hier Aufträge angenommen werden. So füllt Jean-François erst bei Bestellung seinen teils in 60-jährigen Holzfässern ausgebauten Calvados noch händisch ab, um die ältesten Exemplare ebenso händisch mit Wachs zu versiegeln. Das Abfülldatum wird dann diskret auf dem Etikett vermerkt, so wie dies auch bei den Armagnacs unserer Domaine Laberdolive der Fall ist. Lediglich etwa 5.000 Flaschen verlassen jährlich die Domaine ins Ausland, weitere 5.000 werden unter Frankreichs Liebhabern verteilt.
Wie man einen Calvados genießt
Egal ob als Aperitif oder Digestiv genossen, präsentiert sich der noble Brand aus Äpfeln am schönsten in einem kleineren tulpenförmigen Spirituosenglas. Dies garantiert, dass die feinen Düfte aufsteigen, ohne dass der Alkohol überhandnimmt, so wie dies oft bei den überdimensionierten Cognac-Schwenkern der Fall ist. Am schönsten zeigt sich Calvados bei Zimmertemperatur (16–18°C). Einmal abgefüllt, reift Calvados nicht weiter auf der Flasche, hält sich aber geöffnet und wenn nicht unbedingt über dem Kaminsims platziert, oft über ein bis zwei Jahre. Einige der schönsten Kombinationen erschließen sich über Speisen, wo ein Schuss Calvados oft Bestandteil des Gerichts ist. Unsere Favoriten: Flambierte Apfelcrêpes mit Calvados, Pays-d’Auge-Geflügel mit Calvados, Sahnesauce und Pilzen oder einfach solo und nach einem ausgiebigen Mahl, gerne auch zur Zigarre oder am Kamin mit entsprechend inspirierender Lektüre genossen.