Innovation in der Tradition: Antica Casa Vinicola Scarpa oder die Frage, seit wann Barbera dem Barolo das Wasser kann …?!
„Scarpa produziert neben sehr guten, traditionellen Nebbiolo d’Alba, Barbaresco und Barolo einige Spezialitäten wie Moscato d’Asti, Bracchetto oder auch einen wunderbaren Verduno Pelaverga. Jeder dieser Weine ist es unbedingt wert, probiert zu werden. Das nur deshalb vorausgeschickt, weil man Gefahr läuft, die ganzen anderen ausgezeichneten Weine des Hauses aus dem Sinn zu verlieren, nachdem man einmal die Barbera probiert hat. Denn hier läuft Scarpa zu einer nahezu konkurrenzlosen Meisterschaft auf.“ – Marcus Hofschuster (Wein.Plus
Region |
Piemont
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Zusammenarbeit |
seit 2023
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Barbera? Wirklich? Eine der fünf meistangebauten einheimischen Rebsorten Italiens und die dritthäufigste rote Rebsorte, die in fast allen Regionen des Landes zu finden ist? Und auch eine der fünfzehn meistangebauten Rebsorten der Welt? Auf Barolo-Niveau? Doch, das geht. Aber sehen wir uns die Sache doch einmal ein wenig genauer an. „Barbera“: Der Ursprung des Namens ist unklar. Pietro Ratti von Renato Ratti etwa ist der Meinung, dass er sich aufgrund der tiefroten Farbe des Weins von barbaro (Barbar/barbarisch) abgeleitet ist, während andere glauben, dass er von vinum berberis abstammt, einem adstringierenden, säurehaltigen und farbinstensiven mittelalterlichen Getränk. Dieser vinum berberis wiederum hat nichts mit vitibus berbexinis (so in einem Dokument von 1249 aus den Archiven von Casale Monferrato) zu tun, der auch als Namensquelle herhalten musste. Denn dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine andere Sorte, nämlich Barbesino oder Berbesino, die heute als Grignolino bekannt ist.
Trotz ihres üppigen Vorkommens und der ziemlich uneingeschränkten Loyalität, die ihr entgegengebracht wird (Piemonteser und Lombarden werden in der Gesellschaft dieser Traube und ihrer Weine erwachsen: Barbera zu trinken, charakterisiert einen Mailänder fast so sehr wie der Dom oder Risotto alla milanese), hat die Rebsorte weder eine lange noch bedeutende Historie. Die meisten italienischen Experten glauben, dass sie ursprünglich nicht aus Asti oder Alba stammt, sondern aus dem Monferrato-Gebiet im Piemont, in der Nähe von Alessandria, wo sie bereits im siebzehnten Jahrhundert urkundlich erwähnt wurde; Koryphäen wie der Botaniker und „Zitronenpapst“ Giorgio Gallesio (1772–1839) nannten sie Vitis vinifera montisferratensis – obwohl sich dieser Name natürlich auf jede beliebige lokale Rebsorte beziehen könnte.
Zwar gilt Barbera als typische piemontesische Rebsorte, allerdings fehlen jegliche historische Dokumente, die ihr Vorkommen in dieser Region vor dem 18. Jahrhundert belegen. Weder dass die Rebsorte dort schon immer beheimatet war oder dass sie tatsächlich von domestizierten Wildreben aus dem Piemont abstammt. Nichts, niente! Tatsächlich haben DNS-Analysen ergeben, dass die Barbera („la Barbera“!) mit keiner anderen piemontesischen Rebsorte genetisch eng verwandt ist. Was völlig anders aussähe, wäre sie tatsächlich seit vielen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden auf piemontesischem Boden heimisch. Barbera ist auch nicht mit einer anderen, ähnlich benannten piemontesischen Sorte, der Barbera d’Davi, verwandt. Gleiches gilt für die sehr seltenen, ebenfalls piemontesischen Sorten Barbera Ciarìa, Barbrassa, Barberùn und Barbera Dou Ciorniou: nicht verwandt! Ihre Herkunft liegt noch immer im Dunkeln.
Barbera hat einige der wichtigsten Momente der italienischen Weingeschichte miterlebt, gute, schlechte und hässliche. Zu den schlechten bzw. besonders hässlichen gehörte der Methanol-Skandal im Jahr 1986, als einige weniger bekannte Winzer dabei erwischt wurden, wie sie ihren fertigen Barbera-Weinen Methanol beimengten, um sie opulenter und kraftvoller zu machen – und um Kosten zu sparen: eine kriminelle Idee mit lethalem Ausgang! Einziger positiver Nebeneffekt war die Reaktion auf diese Schandtaten, die Italiens Weinszene zwangsweise verbesserte und zu einer strengeren Qualitätskontrolle auf allen Ebenen führte. Zu den besonders guten Momenten gehörte die Erkenntnis, dass Barbera soviel mehr sein kann als ein fröhlich-banaler, säurebetonter Alltagswein für die Trattoria: enter Mario Pesce und die Antica Casa Vinicola Scarpa, die im Jahr 1854 von Antonio Scarpa gegründet wurde.
Mario Pesce († 2004) war es, der in den 1960ern und 1970ern, den Ruf von Scarpa begründete. Sein Vater hatte das Weingut gekauft, die Entwicklung und Führung ab 1948 aber ihm überlassen. Mario war einer derjenigen, die zwar die Traditionen und die Geschichte seiner Region respektierten, aber ehrgeizig und selbstbewusst genug waren, es besser zu machen – und vor allem der fixen Idee anhingen, dass das Monferrato komplexe und elegante Weine mit großem Lager- und Reifepotenzial hervorbringen könne. Er verbrachte dann auch einige Zeit in Burgund und im Elsass, um die französischen Techniken im Weinberg und im Keller zu studieren und nutzte das Gelernte, um in seinen eigenen Weinbergen und in der Cantina im Monferrato zu experimentieren und noch sorgfältigere Techniken zu entwickeln. Dank seiner kompromisslosen „Innovation in der Tradition“ (so die Scarpa-Formel) genoss er unter den Weinproduzenten im gesamten Piemont großes Ansehen, etwa bei so völlig unterschiedlich arbeitenden Winzern wie Bruno Giacosa und Angelo Gaja.
Wie schon erwähnt, war Monferrato lange schon für Barbera bekannt, der aber über den Status des säuresatten, zum Teil als Weißwein oder chiaretto vinifizierten Durstlöschers per tutti i giorni nicht hinauskam. Mario Pesce und Giacomo Bologna waren die ersten Erzeuger, die in den 1960er-Jahren einen ernstzunehmenden, hochwertigen Barbera d’Asti auf Flaschen zogen. Allerdings trennten die beiden stilistisch Welten: Während Bologna seinen Wein (der dann als „Bricco dell’Uccellone“ berühmt wurde) in neuen Eichenfässern reifen ließ, griff Pesce im Wesentlichen auf traditionelle Weinbereitungs- und Reifungstechniken zurück (gebrauchte Fässer unterschiedlicher Größe) und schenkte der Weinwelt seinen „La Bogliona“, der profunden Kennern wie etwa dem Kritiker Ian D’Agata als „benchmark wine“ für Barbera d’Asti gilt.
Im Laufe seiner über 160-jährigen Geschichte war Scarpa im Besitz von sechs Familien. Der jetzige Eigentümer, der in Monaco beheimatete Eugène René Strzhalkovsky, ein Geschäftsmann russischer Herkunft mit polnischen Wurzeln, kaufte das Weingut 2014 von Martina Barosio und ihrer Mutter Maria Piera Zola, die es 2001 von Mario Pesce erwarb, dem sie freundschaftlich verbunden war. Pesces Vermächtnis war in guten Händen, zumal sein Neffe Carlo Castino, der ihm seit 1962 zur Hand ging, weiterhin als Chefönologe fungierte (später unterstützt von Silvio Trichero). Das Weingut liegt in Castel Rocchero, in der Provinz Asti, 10 km südöstlich von Scarpas Cantina in Nizza Monferrato oder 30 km östlich von Alba. Der Weinberg liegt an der Grenze zwischen den beiden Teilen des Monferrato: dem Monferrato Astigiano (d.h. um Asti) im Westen und dem Monferrato Alessandrino (um Alessandria) im Osten. Die Gesamtfläche beträgt 50 Hektar, von denen 27 Hektar bepflanzt sind. Der Rest sind Wälder (einschließlich Trüffelwälder!) und Felder, die Scarpa absichtlich brach liegen lässt, um die Artenvielfalt in den nachhaltig bewirtschafteten Weinbergen zu erhalten.
Sämtliche Weine (bis auf den Basis-Barbera und die Weißweine, die ausschließlich in Edelstahl vergoren und ausgebaut werden) werden entweder in Inox oder konischen Holz vergoren und dann in botti grandi mit einem Fassungsvermögen von 2.000 bis 10.000 Litern ausgebaut. Mario Pesce führte Tests mit unterschiedlichen Hölzern durch und stellte fest, dass solches französischer Provenienz die elegantesten Scarpa-Weine ergab. Wie aber kommt Scarpa aus Nizza Monferrato an Barolo? Seit Beginn der 1900er-Jahre kauft Scarpa Trauben von Winzern in Barolo und Barbaresco und bringt sie zur Vinifizierung und Reifung in die eigene Cantina in Nizza Monferrato. Tatsächlich gehörte Scarpa 1949 zu den ersten, die Barolo mit eigenem Etikett abfüllten und war auch Gründungsmitgliedern des Consorzio Barolo e Barbaresco. Aufgrund seiner historischen, ja „testimonialen“ Bedeutung, darf Scarpa weiterhin Barolo und Barbaresco in der cantina im Monferrato erzeugen – und auch diese hat Mario Pesce ein ganzes Leben lang begleitet: Alle Rotweine werden vor ihrer Freigabe einer längeren Flaschenreifung in der Cantina unterzogen. Diese Reifung ist Teil des Vermächtnisses von Mario Pesce und ein Teil dessen, was allen Scarpa-Weinen ihre besondere Eleganz verleiht. Darüber hinaus hält das Weingut nach wie vor ein großes Quantum seiner Weine quer durch den Rebsortenspiegel in exzellenten Jahrgängen zurück, um sie nach und nach freizugeben. Diese Bibliothek („Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“ – Jorge Luis Borges) umfasst weit über 45.000 Flaschen, die bis in die 1960er zurückreichen. Darunter auch der legendäre Barolo Riserva Speciale von 1962, einem Jahr, das zwar mit viel Eleganz, aber wenig Reifepotenzial punktete. Nicht so hier, wie Auktionen bei Bonhams, Christie’s oder Sotheby’s Jahr für Jahr beweisen. Scarpa und seine Weine – aus der Zeit gefallen!